Im Blickfeld: Max Ernst

Scrollen
-

Figure Humaine

Das Gemälde Figure humaine (1930) von Max Ernst (1891-1976) ist uns von einem ungenannten Sammler geschenkt worden. Mit der kleinen Ausstellung in der Reihe »Im Blickfeld« und der beglei­tenden Publikation stellen wir unsere Neuerwerbung in seinem Umfeld vor.

Ein seltsames Wesen beherrscht das Bild. Aus seinen wuchernden Körperelementen sprießt wie ein Kelch der Hals hervor und gibt den Kopf frei. Es ist der Kopf eines Vogels, auch wenn er nicht wirklich einen Schnabel hat. Das Wesen ist männlich und weiblich, pflanzlich und tierisch, vogelhaft zugleich. Max Ernst hat es »Figure humaine« genannt, also Menschliche Figur. In seinem Schoß birgt es ein Junges. Die Figur ist mit einer Staffelei verwoben - an den Beinen und den Kanten der schräggestellten Tafel ist sie erkennbar. Es bleibt jedoch offen, was gemeint ist, eine Figur, die sich verlebendigt und von der Leinwand löst, oder eine Staffelei, die sich in eine Figur verwandelt.
Max Ernst hat darauf hingewiesen, daß er die Figure humaine aus einem Ornament entwickelt hat:
»Ein Ornament, Stil 'Zweites Kaiserreich', das wir in einem Zeichenlehrbuch entdeckten, hatte, als wir es sahen, die Tendenz, sich in eine Chimäre zu verwandeln, die gleichzeitig einem Vogel, einem Kraken, einem Mann und einer Frau ähnlich sah.« Das Ornament interessierte ihn weniger wegen seiner dekorativen als wegen seiner inspirativen Kraft. Jedes Ausgangsbild ist für ihn wandlungsfä­hig. Die Figuren in der Collage Le prince consort und dem Blatt Oit boivent les loups gehen auf das gleiche Ornament zurück.

In der Figure humaine jedoch wird die grazile Figur zu einem bedrohlichen Wesen. Die enge Raumbegrenzung - schmale Bühne und seitliche Begrenzung - trägt zu diesem Eindruck bei. Mon­stren sind Metaphern für menschliche Situationen. Es sind Sinnbilder hirnloser Macht, Symbole für die wilden, dämonischen Kräfte, die aus dem Unbewußten auftauchen. Max Ernst begreift das Phantastische als eine entscheidende Erfahrung menschlichen Daseins: Innen- und Außenwelt be­fruchten einander. Schon Dostojewskij, in dessen Nachfolge sich Max Ernst sah, sagte: »Was die meisten Menschen als phantastisch betrachten, halte ich für das innerste Wesen der Wahrheit.«

Der Vogelkopf und das Junge im Schoß der Figure humaine verweisen auf Max Ernsts Vorliebe für den Vogel. Er versteht Vögel als Stellvertreter des Menschen; sie sind Symbole menschlicher Möglichkeiten, Embleme für Grausamkeit so gut wie für Unabhängigkeit und Freiheit. In der Werkgruppe A l 'interieur de la vue: l 'reuf -Das innere Gesicht: Ei beschäftigte sich Max Ernst mit den Themen des Vogels, der Leidenschaft des Sehens und der Verschlingung der Figuren. Das Ei ist Symbol für das Ausbrüten von Ideen und ihre Umsetzung in eine Gestalt.
Ein Bild aus dieser Gruppe übermalte er mit der Figure humaine. Die ovale Form des Eies ist unter der Malschicht noch zu erahnen, und die Röntgenaufnahme gibt eine Vorstellung von dem übermaIten Bild. Sie ermöglicht, im Vergleichen zu erkennen, daß Max Ernst Partien des vorangegangenen Bildes übernommen hat; ein Beispiel ist die rote Scheibe neben dem Kopf